Heilsame Glaubenssätze, Vorstellungen, Überzeugungen und Lebensregeln sind solche, die meinen inneren und äußeren Gegebenheiten in dem Sinne gerecht werden, sodass meine wesentlichen Bedürfnisse erfüllt werden. Im Folgenden sollen beispielhaft einerseits schädliche Überzeugungen und Lebensregeln offen gelegt und erklärt werden, andererseits heilsame Glaubenssätze und Lebensregeln hervorgehoben werden.
Der erste und vielleicht wichtigste Schritt ist, sich seine oft „unbedachten“ Überzeugungen und Vorstellungen überhaupt bewusst zu machen und sie kritisch zu bedenken. Bereits das führt zu einer heilsamen Bewusstseinsentwicklung.
Beispiel für eine schädliche Lebensregel: „Den Vogel, der am Morgen singt, frisst abends die Katze.“ Mit dieser „Regel“ soll die Gefährlichkeit der Unbeschwertheit und Fröhlichkeit betont werden. Die Lebensfeindlichkeit dieses Satzes spiegelt sich in mehreren Punkten wieder: Er impliziert, dass das Nicht-Singen Leben retten könne. Jeder Vogel stirbt so oder so und ebenso jede Katze. Der Satz gaukelt einem vor, als könne man ewig leben, wenn man seine Fröhlichkeit opfert. Für den Vogel, der nicht singt, bedeutete das zusätzlich, dass er nicht für die Paarung infrage käme und sich nicht fortpflanzen könnte.
Es gibt in diesem Sinne eine ganze Reihe schädlicher Sätze bzw. Überzeugungen: „Freu dich nicht zu früh“, „Wenn ich immer vom Negativen ausgehe, kann ich nicht enttäuscht werden“, „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, „Als Pessimist habe ich entweder immer recht oder ich erlebe angenehme Überraschungen“, „Zynismus ist der Versuch, die Welt zu sehen, wie sie wirklich ist“, „Hoffnung ist ein gutes Frühstück, aber ein schlechtes Abendbrot“ u. v. a. Solange ich solchen Regeln folge, benutze ich meine Vorstellungskraft und damit meine Lebensenergie, um in meinem Bewusstseinsraum – vorsorglich – ständig gewissermaßen eine Jauchegrube bzw. einen Misthaufen vorzuhalten. Damit soll keinesfalls beschönigt werden, dass es in meinem Leben nicht schon eine Menge „Mist“ gegeben hat, noch gibt und weiter geben wird. Doch das wird nicht dadurch besser, dass ich ihm in meinem Bewusstsein einen Tempel errichte; im Gegenteil: Ich „verpessimiste“ mich dadurch und mache mich auf Dauer krank.
Doch auch scheinbar positive Überzeugungen und Lebensregeln wirken krankmachend, wenn sie der Lebenswirklichkeit zuwiderlaufen. Solche Regeln können beispielsweise lauten: „Ich muss immer stark sein bzw. ich darf keine Schwäche zeigen“, „Ich erlaube mir nicht zu weinen, da weinen Schwäche bedeutet“, „Man muss immer kämpfen und darf nicht aufgeben“, „Man darf nicht scheitern“, „Man muss immer positiv denken“ „Ich kann ein sorgenfreies und leidloses Leben führen“ u. a. mehr. Das Problematische an solchen Lebensregeln bzw. Glaubenssätzen ist ihre Unvereinbarkeit mit der Lebenswirklichkeit. Es gibt kein Leben ohne Leid, ohne Schwächen, ohne Scheitern. Wollte ich immer nur positiv denken, wäre die verleugnete negative Realität mein ständiges Schreckgespenst.
Wenn wir an solchen Glaubenssätzen haftend dann doch scheitern, leiden und geschwächt sind, tragen wir nicht nur diese Last, sondern fühlen uns gleichzeitig noch als „Verräter“ an unseren Idealen, als Schuldigen und Minderwertigen. Durch die damit verbundenen Selbstverurteilungen und Selbstentwertungen kränken wir uns zusätzlich.
Dieses Krankmachende ist besonders für die Wertvorstellungen, Glaubenssätze, Überzeugungen, die den Zusammenhang von Weinen und Schwäche betreffen, von zentraler gesundheitlicher Bedeutung.
Es ist unsere durchgängige Erfahrung als Therapeuten, dass besonders Menschen mit Depressionen, psychosomatischen Erkrankungen, Zwängen u. a. quälenden Symptomen entweder nicht weinen können oder durch ihr Weinen keine Erleichterung erfahren. Der Grund dafür ist, dass sie ihr Weinen selbst als Schwäche verurteilen bzw. es selbst als zusätzliches Problem und nicht als Teil der Lösung ansehen. Die Begründungen lauten immer wieder ähnlich: „Ich will doch stark sein“, „Ich will keine Schwäche zeigen“, „Ich will andere nicht damit belasten“, „Tränen bringen nichts“, „Wenn ich heule, fühle ich mich noch schlechter (minderwertiger)“, „Ich will keine Heulsuse, kein Weichei, kein Schwächling sein“ u. a. mehr. Diese Wertvorstellungen und Überzeugungen verhindern dann die entlastende und befreiende Wirkung des Weinens mit der Folge, dass der durch Leid, Not, Schmerz ausgelöste emotional-körperliche Druck ohne das „Tränen-Ventil“ chronisch aufrechterhalten wird.
Das macht sich dann über Druckgefühle – Kopf, Nacken, Hals, Brust, Bauch – Schmerzen in diesen Bereichen und in Erschöpfung bemerkbar. Die Erschöpfung kommt dadurch zustande, dass die zur Entlastung hoch drängenden, aufsteigenden Gefühle aufgrund dieser genannten Wertvorstellungen kräftezehrend unterdrückt werden. Viele Schmerzen aus dem sogenannten rheumatischen Formenkreis, aber auch Nasennebenhöhlenentzündungen und andere, besonders chronische Erkrankungen haben hier eine wesentliche Ursache.
Da diese Ursache – nämlich die Unterdrückung unerwünschter Gefühle (etwa der Trauer) bzw. die Unterdrückung unerwünschter Gefühlsäußerungen wie das Weinen – verkannt wird, werden die daraus entstehenden Symptome (Schmerzen, Entzündungen usw.) zur Ursache des Leids erklärt und medizin-therapeutisch behandelt.
Die eigentlichen Ursachen – überzogene, stolze Wertvorstellungen wie z. B. „ich muss immer stark sein und will deshalb nicht weinen“ sowie die damit einhergehende Unterdrückung vermeintlich schwacher Gefühle – werden weiter verkannt, bleiben unbehandelt und unterhalten solang die Symptome, wie ich an diesen Wertvorstellungen und Glaubenssätzen festhalte. Damit einher gehen meist die Überzeugungen vom Recht des Stärkeren, der Notwendigkeit des Kämpfens sowie der Abhängigkeit des eigenen Wertes – und ebenso der anderer Menschen – von entsprechenden Attributen, Fähigkeiten und Eigenschaften.
Gerade auch an der Einstellung zum Weinen lässt sich häufig ein meist verborgener stolzer Anspruch auf Überlegenheit bzw. Höherwertigkeit dingfest machen: Anderen Menschen gestehe ich das Weinen als etwas Positives und Hilfreiches zu, während ich es für mich selbst als etwas Schwaches ablehne; was meinen Anspruch auf überlegene Stärke impliziert. Häufig gehen mit dieser Einstellung zum Weinen noch andere Überzeugungen bzw. Glaubenssätze einher: „Es ist möglich, ein leidloses Leben zu führen“ sowie „Das Leben ist nur dazu da, es sich angenehm zu machen.“
Es ist aber unmöglich, ein leidloses Leben zu führen, da das Leid eine Trennungsfolge ist. Da das Leben mit Werden und Vergehen einhergeht, muss sich jeder Mensch auch immer wieder von Liebgewonnenem trennen – und das ist schmerzlich. Das bedeutet, dass ich mit der Vorstellung, dass mein Leben nur dazu da sei, es mir angenehm zu machen, immer wieder bitter enttäuscht werde. Daran ändern auch solche positiven Imaginationen wie die von John Lennon in seinem Lied „Imagine“ nichts: In diesem natürlichen Leben von Geburt bis zum Tod bleiben Trennung und Leid integrale Faktoren. Vor dem Hintergrund dieser Tatsache kann es also nicht so sehr um die Frage gehen, wie ich die Welt zum Paradies mache, sondern wie ich mein mit Trennung verbundenes Leid angemessen „verschmerzen“ kann.
Hier nehmen nun das Betrauern im Allgemeinen und das Weinen im Besonderen entscheidende Aufgaben wahr. Die schmerzlichen Gefühle, die mit dem Verlust von Wertgeschätztem und Geliebtem einhergehen, benötigen einen Ausdruck, damit die durch sie erzeugte innere Spannung bzw. der innere Druck gelöst werden kann. Andernfalls „vergifte“ ich mich durch den durch sie erzeugten permanenten Stress.
Bestimmte Rituale wie z. B. Gedenk- und Bestattungsfeiern können den Zugang zu den schmerzlichen Gefühlen erleichtern und die Entlastung durch Weinen begünstigen.
Das Weinen ist vielleicht die effektivste menschliche „Reinigungs-“ bzw. Lösungsfunktion bzw. Selbstregulationsmöglichkeit. Was auf der körperlichen Ebene Stuhlgang, Wasserlassen und Schwitzen sind, ist auf der seelischen Ebene das Weinen. Weil das Weinen eine so umfassende Selbstregulationswirkung hat, setzen wir die Tränen eben auch zum Ausdruck und zur Lösung anderer druckvoller Gefühle wie Rührung, Freude, Liebe, Ergriffenheit und Dankbarkeit ein.
Der Vollständigkeit halber seien hier noch die anderen Selbstregulationsinstrumente erwähnt, die der Mensch zur Verfügung hat: Lachen, Schreien, Trinken, Essen, Tanzen, Singen, Spielen, Husten, Gähnen, Schwitzen, Erbrechen, Stuhlgang, Zittern, heftige Bewegungen, Drogen, Berührungen (z. B. Streicheln), in der Natur sein, Sprechen, Beten, Musik machen, Malen, Schreiben, Meditieren u. v. a. mehr.
Da jedoch kein Selbstregulationsinstrument so umfassend wirkungsvoll und heilsam ist wie das Weinen, ist es notwendig, sich mit seinen häufig unbedachten Glaubenssätzen und Wertvorstellungen auseinanderzusetzen, sie vielleicht zu erweitern und somit wieder in den „Genuss“ des heilsamen Weinens zu kommen.
Im Folgenden werden eine Reihe möglicher Glaubenssätze gelistet, die durch ihre impliziten Entwertungen zu Gefühlsblockaden führen und so die Selbstregulation beeinträchtigen. Ob sie für mich zutreffen, kann ich testen, indem ich sie laut ausspreche und in mich hineinspüre, ob sie sich für mich eher stimmig bzw. zutreffend oder unstimmig bzw. unzutreffend anfühlen:
Ich muss immer stark sein. (Beinhaltet: Wenn ich schwach bin, bin ich minderwertig.)
Wertschätzung, Anerkennung und Liebe muss man sich verdienen. (Beinhaltet: Andernfalls steht sie mir nicht zu.)
Für ein erfülltes Leben brauche ich Wohlstand, Ansehen und Erfolg. (Beinhaltet: Ohne das ist mein Leben unerfüllt.)
Mit meinem Tod ist alles zu Ende. (Beinhaltet: An meinem Ende wartet nichts.)
Um mich zu behaupten, muss ich kämpfen und stark sein. (Beinhaltet: Ohne Kampf bin ich verloren.)
Ich darf keine Fehler und mich nicht schuldig machen. Darum muss ich ständig beurteilen, ob etwas richtig oder falsch ist bzw. wer recht hat. (Beinhaltet: Ich bin ständig von Unrecht bedroht.)
Wer Schuld hat, ist minderwertig. Darum darf ich nicht der Schuldige sein, muss die Schuld weiterreichen oder mich rechtfertigen. (Beinhaltet: Ich bin ständig von Schuld bedroht.)
Meine eigenen Bedürfnisse und die der meinen haben Vorrang. (Beinhaltet: Ich bin von den anderen und deren Ansprüche bzw. Bedürfnissen bedroht.)
Man darf nicht hassen. Hass ist böse. (Beinhaltet: Wenn ich Hass fühle, bin ich minderwertig.)
Ich darf keine Angst haben, da Angst Schwäche bedeutet. (Beinhaltet: Angst und Schwäche sind minderwertig.)
Ich darf keine intensiven Gefühle zeigen, weil ich dadurch zu viel von mir preisgebe. (Beinhaltet: Wenn ich zu viel von mir preisgebe, mache ich mich verletzlich und angreifbar.)
Wer „cool“ ist, ist stark und attraktiv. (Beinhaltet: Uncool-Sein ist minderwertig.)
Leid und Not müssen um jeden Preis vermieden werden. (Beinhaltet: In Leid und Not ist mein Leben wertlos.)
Weinen ist Ausdruck von Schwäche. (Beinhaltet: Damit bin ich anderen unterlegen und minderwertig.)
Und viele andere mehr.
Was all diesen Glaubenssätzen gemeinsam ist, sind implizite Verneinung bzw. Ablehnung sowie Entwertung. Da Verneintes und Abgelehntes aber auch immer – berechtigte! – Seiten von mir sind, kränke ich mich mit diesen Glaubenssätzen bzw. Überzeugungen selbst und lebe in ständiger Verunsicherung. Ich werde aber meiner ganzen – sprich heilen – Lebenswirklichkeit nicht gerecht, wenn ich etwas ausschließen will, was in mir und in der Welt vorhanden ist und wie ein notleidendes Kind angenommen werden möchte.
Wenn ich solche problematischen Glaubenssätze in mir erkenne, kann ich genau hier mit meiner Selbstheilung beginnen, indem ich beispielsweise sage: Auch wenn ich mich in meiner Not und meinem Leid wertlos fühle, habe ich Mitgefühl mit mir und liebe mich. Dieser Satz, respektive das, was mit diesem Satz gemeint ist, ist deswegen so heilsam, weil es die Wirklichkeit des Ganzen, in der alles mit allem verbunden ist und nichts ausgeschlossen wird, wertschätzend anerkennt und einbezieht.
Heilsame Glaubenssätze bzw. heilsame Überzeugungen sind solche, die dieser Wirklichkeit des Ganzen sowie der All-Verbundenheit gerecht werden:
Statt „Ich muss immer stark sein“: „Ich will stark sein und darf schwach sein.“
Statt „Wertschätzung, Anerkennung und Liebe muss man sich verdienen.“: „Wertschätzung, Anerkennung und Liebe kann man sich verdienen und sie stehen einem unverdient zu.“
Statt „Für ein erfülltes Leben brauche ich Wohlstand, Ansehen und Erfolg.“: „Mit Wohlstand, Ansehen und Erfolg kann ich mich vorübergehend erfüllt fühlen. In Wirklichkeit bin ich ständig von allem erfüllt.“
Statt „Mit meinem Tod ist alles zu Ende.“: „Mit meinem Tod ist mein sterbendes Leben zu Ende und ich werde in eine zeitlose Wirklichkeit geboren.“
Statt „Um mich zu behaupten, muss ich kämpfen und stark sein.“: „Um mich zu behauten, kann ich kämpfen, und ich kann mich annehmend dem überlassen, was gerade ist.“
Statt: „Ich darf keine Fehler und mich nicht schuldig machen. Darum muss ich ständig beurteilen, ob etwas richtig oder falsch ist bzw. wer recht hat.“: „Es ist gut, Fehler zu vermeiden, und es ist gut, Fehler zu machen und mich dadurch weiterzuentwickeln.“
Statt „Wer Schuld hat, ist minderwertig. Darum darf ich nicht der Schuldige sein, muss die Schuld weiterreichen oder mich rechtfertigen.“: „Es ist traurig, dass sich in diesem Leben jeder Mensch schuldig macht. Wenn ich meine Schuld annehme, stelle ich damit den Wert, an dem ich mich schuldig gemacht habe wieder her und rehabilitiere so ihn und mich.“
Statt „Meine eigenen Bedürfnisse und die der meinen haben Vorrang.“: „Ich habe vorrangig auf meine eigenen Bedürfnisse und die meiner Kinder zu achten; so wie jeder andere auch. Damit erkenne ich an, dass wir in Wirklichkeit alle gleichberechtigt sind.“
Statt „Man darf nicht hassen. Hass ist böse.“: „Hass ist zwar ein belastendes Gefühl, aber es ist auch im Interesse der Selbstbehauptung und der Energiemobilisierung notwendig. Hass ist wie alle Gefühle eine wichtige Information über Beziehungen und hat so keine moralische Qualität. Etwas ganz anderes sind mögliche Hasshandlungen.“
Statt „Ich darf keine Angst haben, da Angst Schwäche und damit Minderwertigkeit bedeutet.“: „Angst ist ein lebensnotwendiges Gefühl, das auf tatsächliche oder vermeintliche Gefahren aufmerksam machen will. Wenn die Angst mich schwächt, will sie verhindern, dass ich weiter in Gefahr begebe. Angst und Schwäche sind natürliche Lebenserscheinungen, die keinesfalls den Wert eines Menschen mindern.“
Statt „Ich darf keine intensiven Gefühle zeigen, weil ich dadurch zu viel von mir preisgebe.“: „Ob und wie ich meine Gefühle äußere, bestimme ich aus der jeweiligen Situation heraus. Ich habe die Freiheit, mich so zu zeigen wie ich bin auch auf die Gefahr hin, deswegen angegriffen zu werden.“
Statt „Leid und Not müssen um jeden Preis vermieden werden.“: „Da es im Leben immer wieder zu Trennungen kommt, sind Leid und Not unvermeidbar. Sie halten gewissermaßen die Verbindung zu den durch die Trennung verloren gehenden bzw. verlorenen Werten und öffnen mich für eine umfassendere Freiheit.“
Statt „Weinen ist ein Ausdruck von Schwäche.“: „Weinen ist der vielleicht wirksamste und heilsamste Ausdruck intensiver Gefühle, die ohne diesen Ausdruck blockierende innere Spannungen bewirkten.“