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Gesundheit durch Krankheit

Letztlich sind es von der sogenannten Normalität abhängige willkürliche Definitionen, was gesund und was krank ist.

Wenn wir uns an der Definition der WHO orientieren, bedeutet Gesundheit: körperlich-seelisch-soziales Wohlbefinden. Wenn wir uns bei voller Gesundheit total erschöpft haben, Muskeln und Gelenke schmerzen und wir uns "schlecht" fühlen, dann ist das ein gesunder Zustand, damit wir uns Ruhe und Erholung gönnen.

Wenn sich unser gesunder Organismus heftig mit einem Erreger (Pilz, Bakterium, Virus) auseinandersetzt, wir Fieber haben und uns krank und schwach fühlen, ist das eine gesunde Reaktion, um uns zu schonen und alle Kraft auf die Auseinandersetzung mit diesem Erreger aufwenden zu können. Krankheitssymptome - wie Fieber, Schwäche, Unwohlsein - stehen also im Dienste der Heilung.

Letzlich lässt sich dieses Prinzip "Krankheit im Dienst der Heilung" bzw. "Krankheit als Sonderfall der Gesundheit" oder zumindest "Krankheit als schmerzlicher Heilungsversuch" auf alle sogenannten Krankheiten anwenden. Dass einem das häufig als völlig absurd vorkommt, ist vor dem Hintergrund des oft furchtbaren Krankheitsleids nur zu verständlich. Doch gerade dabei wird deutlich, wie notwendig im schlimmsten Leid Mitgefühl und Liebe sowie die mit diesen Gefühlen verbundene Annahme des kranken Menschen werden.

Je mitfühlender wir in der Not werden und sind, desto mehr machen wir die Erfahrung, dass Gesundheit nicht nur die individuelle, sondern auch die Gesundheit, das Wohl der Mitmenschen und das Wohl der Welt im Sinne einer "ökologischen Gesundheit" (s. Gesundheitsverständnis) umfasst. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wie wichtig ein dementsprechendes Menschen- und Weltbild bzw. ein dementsprechendes Selbst- und Weltverständnis im Sinne eines "integralen Bewusstseins" (s. dort), das man mit der Metapher beschreiben könnte: Der Mensch ist mehr Netz als er die einzelne Masche ist. 

Der griechische Philosoph Heraklit spricht davon, dass das Ganze von polaren Gegensätzen aufgespannt wird, die sich im ständigen Fluss ineinander umwandeln; das eine wird zum anderen und das andere wird zum einen. Er beschreibt die Einheit des Gegenstrebigen so:

„Sie verstehen nicht, wie das Auseinandergehende mit sich selbst zusammengeht:

gegenspännige Zusammenfügung wie von Bogen und Leier.“

Wohlfühlen kann ich mich nur, wenn ich sowohl Wohlsein als auch Unwohlsein kenne.

Nur durch die Unterscheidung bei gleichzeitiger Einheit komme ich zu Bewusstsein und zur Erkenntnis, dass Gesundheit und Krankheit mehr umfassen als meinen momentanen Zustand.

Ich erfahre das wohlige Gefühl der Sättigung nur, wenn ich den Hunger kenne, und den Hunger kann ich als solchen nur erkennen, wenn ich gleichzeitig weiß, was Sättigung ist.

„In der Nacht ist der Durst das Licht, das uns zur Quelle führt“, sagt Johannes vom Kreuz.

Die Sehnsucht spüre ich nur, wenn das in mir ist, was sie sucht. Dasselbe gilt für Frieden und Unfrieden, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Sicherheit und Unsicherheit, Anerkennung und Missachtung, Liebe und Lieblosigkeit.

Jedes Bedürfnis, das ich spüre, birgt sowohl den Mangel als auch die Erfüllung und in einem die Bewusstwerdung, die Erkenntnis von beidem in sich.

Es geht darum, zu erkennen, wie ich einerseits im Strom des Lebens trotz aller Klippen, Strudel und Stromschnellen (eine Metapher des Medizinsoziologen Antonovsky) mitschwimmen kann, und andererseits geht es darum, zu erkennen, dass ich mit allen meinen Mitschwimmern gemeinsam gleichzeitig dieser Fluss des Lebens selbst bin.

In dieser Gemeinschaft ist auch gesund und krank nicht das Entweder-oder und dementsprechend ebenso nicht: Ich bin gesund und der ist krank – es gilt die Einheit des Gegenstrebigen in allen seinen Erscheinungsformen.

Ich bin dann gesund im Sinne von geheilt und heilig, wenn ich mich als Gesunder und Kranker, als Bedürftiger und Erfüllter gleichzeitig und gleichermaßen annehmen und lieben kann.   

Gesundheit ist selbst ein wesentliches Bedürfnis, das sich wie alle anderen Bedürfnisse auch durch die Bewegung zwischen den Polen Wohlgefühl und Unwohlsein in allen ihren verschiedenen Erscheinungsformen mitteilt.

Somit kann ich Gesundheit als Knotenpunkt des Wechselspiels zwischen Empfinden, respektive Erkennen der jeweiligen Bedürfnisse einerseits und ihrer Erfüllung andererseits verstehen. Wenn ich mich also krank fühle, dann heißt das immer, dass ich etwas brauche; dass eins oder mehrere Bedürfnisse nicht erfüllt und vielleicht sogar nicht einmal als solche erkannt sind bzw. eventuell verleugnet werden. In diesem Verständnis von Krankheit hier erkenne ich ihren heilsamen Zweck im Interesse meiner Lebenserfüllung an. Elementare Bedürfnisse wie Atemluft, Wasser, Nahrung und Wärme werden über entsprechende Mangelsymptome eindeutig signalisiert. Bei anderen Bedürfnissen wie nach Spiel, Kultur, Natur, Spiritualität, Feiern, Fürsorge, Sinn, ja selbst bei der Sexualität ist es nicht so eindeutig spürbar, dass ein bestimmtes Gefühl oder Signal auf ein konkretes zu erfüllendes Bedürfnis hinweist, wie das z. B. bei dem Signal „Durst“ und Trinkbedürfnis ist.

Obwohl sich die Sexualität ab der Pubertät normalerweise sehr deutlich bemerkbar macht, kann sie durch Repression (durch Traumatisierung, Eltern, Kirche, Umfeld) verdrängt werden und äußert sich dann nur noch verdeckt.

Ein ähnliches Schicksal können eben auch aus Gründen der „Political Correctness“ oder, anders ausgedrückt, aufgrund tief sitzender Überzeugungen andere Bedürfnisse bzw. deren Wahrnehmung erleiden.

Da alle Bedürfnisse einem erfüllten Leben dienen, ist es notwendig und sinnvoll, dass sie sich auf irgendeine Weise, durch irgendwelche Zeichen oder Symptome zu Wort melden – gerade im Interesse meiner umfassenden Gesundheit.

Damit soll keinesfalls beschönigt werden, dass dieses Melden auch als störend bis qualvoll erlebt werden kann und der Sinn und das Hilfreiche nicht mehr so leicht zu erkennen ist.

Wie sich die Bedürfnisse nach Feiern, Transzendenz, Spiritualität oder sogar nach Gottheit dann auch in sogenannten materialistischen Gesellschaften Bahn brechen, lässt sich an solchen Phänomenen wie Väterchen Frost, der kommunistischen Jugendweihe oder der öffentlich verbreiteten „Vergöttlichung“ eines Stalin, Mao, Pol Pot, Kim Il Sung („ewiger Präsident“) festmachen. Die Tatsache, dass es solche Phänomene gibt, macht es plausibel, dass es auch die entsprechenden Bedürfnisse gibt; gerade auch, wenn sie abgestritten werden.

Dass ich ein Bedürfnis nach Sinn bzw. Sinnhaftigkeit habe, wird mir erst dann spürbar bewusst, wenn ich ein Gefühl der Sinnlosigkeit empfinde; vorher oft nicht.

Solange ich etwas nur habe oder bin (also ohne Vergleich mit dem Mangelerleben), kann ich mir dessen nicht bewusst sein. Um was es auch immer geht, ich erkenne erst die Fülle bzw. die Erfüllung, wenn ich den Mangel gespürt habe.

Da ich mich in diesem Leben immer auch als Bedürftigen erlebe, außer wenn ich uneingeschränkt in meiner Liebe bin, bin ich reziprok immer sowohl gesund als auch krank.

Das gilt in besonderer Weise, wenn ich mein Bedürfnis nach Mitgefühl erfülle und damit im Anderen sowie in bzw. an der Welt kranke und gesunde.

Diese Genesung, Gesundung und Heilwerdung der Menschen durch Mit-fühlen, Mit-kranken und Mit-leiden hat mir und jedem Gott in seiner Person als geschundener und gekreuzigter Gottessohn vorgelebt und geschenkt.

So kann ich seinem Vorbild folgend selbst ebenso, indem ich Gesundheit, Krankheit und schließlich den Tod gleichermaßen annehme, in einem umfassenderen Sinn immer gesund, heil und heilig sein.

Falls ich wegen Hunger, Lebensgefahr oder Krankheit meine fühlende Einsicht in das Einssein verliere, leiten mich meine Symptome bzw. Notsignale wieder in Richtung Bedürfniserfüllung. Alle Bedürfnisse sind als Geschenke des Lebens, das Leben zu erleben, auch gleichzeitig Liebesäquivalente.

Meine Not und die Nöte aller Menschen können so als Liebesbotschaft wirken.

Keinesfalls sollen dadurch Leid, Schmerz, Verzweiflung und Angst beschönigt werden, sondern sie wollen in ihrer Sinn, Würde, Mitgefühl sowie ihrer Gemeinschaft stiftenden Kraft anerkannt sein.

Nochmals sei daran erinnert, dass die Not, die Krankheit, die „Schuld“ der Menschen zur Selbstmitteilung Gottes in bzw. durch seinen Sohn geführt haben.

Was gibt es noch zum Thema "Selbstheilung"?

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