Wenn hier von Schmerzen die Rede ist, sind damit körperlich und seelisch empfundene Schmerzen gleichermaßen gemeint. So fühlt sich ja auch für viele Menschen beim Trennungsschmerz von einem geliebten Menschen das Herzorgan wie wund an und gleichzeitig wird eine große Traurigkeit gespürt.
Wenn es aber so ist, dass der Umgang mit belastenden Gefühlen das zentrale Problem darstellt, geht damit gleichzeitig das Problem der stimmigen Regulation meiner Gefühle einher. Mit stimmig ist gemeint, mich in mir und in der Welt geborgen, „richtig“ bzw. sinnvoll und lebendig zu fühlen.
Mit der dazu notwendigen Selbstregulationsfähigkeit werde ich als sogenannte physiologische Frühgeburt nicht geboren. Mit Unterstützung der Mutter bzw. der ersten Bezugspersonen lerne ich diese Fähigkeit nach und nach zu entwickeln. Ich lerne die Selbstregulation in dem Maße, wie ich die Erfahrung mache, dass sich die Mutter mir in meiner Not, meiner Unruhe, meinem Hunger, Durst, Schmerz usw. verständnisvoll, ausgleichend und besänftigend zuwendet. Sie gleicht Durst, Hunger, Müdigkeit, Kälte, Hitze, Nässe, Verlassenheit usw. aus. Je passender ihr das gelingt, desto erfüllter, „richtiger“ und geborgener fühle ich mich als Säugling. Gleichzeitig mache ich die Erfahrung, dass ich auch mit all diesen Mangelzuständen – und sogar wegen dieser – von der Mutter angenommen und somit „richtig“ bzw. wertvoll bin.
Das ist die ideale Voraussetzung, um mich immer sicherer selbst in solchen Situationen und den damit verbundenen Gefühlen regulieren zu können. Meine ersten Möglichkeiten, mich selbst in meiner körperlich-seelischen Aufgeregtheit zu regulieren, sind Schreien, an Fingern lutschen, heftige Bewegungen (Strampeln), Ausscheidungsfunktionen und besonders der Schlaf. Für alles andere brauche ich die Mutter, die mich füttert, säubert, streichelt, wiegt und beruhigt. Je mitfühlender und passgenauer sie das tut, desto sicherer werde ich in meinem Wertgefühl, so richtig zu sein, wie ich gerade bin.
Mit meiner fortschreitenden Entwicklung lerne ich immer mehr, mich aus mir heraus selbst zu regulieren. Ich kann Tränen weinen, mir selbst Nahrung in den Mund stecken, mich immer selbstständiger fortbewegen, mich immer differenzierter mitteilen, spielen, mir tröstende Geschichten ausdenken, meine Selbst- und Welterfahrung immer weiter ausweiten und dadurch mich selbst und die Welt immer besser verstehen. Dazu stelle ich unentwegt Fragen – warum – in unerschöpflichem Wissensdrang und Lerneifer. Je mehr es mir gelingt zu verstehen und ein lerneifriger Verstehen-Wollender – das ist die Alternative zum Verurteilen – zu sein und zu bleiben, desto mehr optimiere ich meine Selbstregulation bis ins Greisenalter.
Die Lösung meines einzigen wirklichen Problems ist demnach nie endgültig, sondern ein stetig sich entwickelnder Prozess, in dem eine mitfühlende, (selbst-)fürsorgliche, liebe- und verständnisvolle Haltung – wie die einer guten Mutter – mir selbst gegenüber entscheidend ist. In diesem Entwicklungsprozess gibt es kein „zu alt“ und kein „zu spät“ und kein „zu schwach“, da gerade die Schwäche Mitgefühl und Fürsorge begünstigt.
Eine solche mütterliche Haltung etabliere ich in dem Augenblick in mir, wenn ich gerade in schmerzlichen, leidvollen, verzweifelten Situationen mein Mitgefühl und meine Liebe mit „Auch damit habe ich Mitgefühl mit mir und liebe mich“ aufrufe.
Nachsatz: Mancher mag hierbei einwenden, keine – gute – Mutter gehabt zu haben. Das Bild der guten Mutter ist in jedem Menschen von den Erfahrungen mit Generationen von Müttern, Großmüttern, Urgroßmüttern usw. geprägt. Die Tatsache, dass ich lebe, beweist, dass ich von den „Müttern“ bzw. den Nährerinnen das Lebensnotwendige bekommen habe. Diese Erfahrungen des Genährt- und Versorgt-Werdens ist zusammen mit den Bildern der Nährerinnen in meinen neuronalen Netzwerken im Gehirn repräsentiert. Sie lassen sich gerade in Notsituationen aktivieren. Auf diese Weise ist es mir möglich, mich mir – mich selbst regulierend – zuzuwenden.