Wie nie zuvor sind wir als Nachkriegsgenerationen in kurzer Aufeinanderfolge von Pandemie-, Hochwasser und Kriegskatastrophen unmittelbar betroffen. Dabei wird immer erkennbarer, welche Rolle der Mensch selbst bei der Entwicklung von Naturkatastrophen und Pandemien spielt; vom Krieg ganz zu schweigen. Es ist daher sowohl zur Bewältigung der Katastrophen als auch zur Prävention notwendig, die Zusammenhänge verstehen zu wollen. Sinngebung bedeutet hier, das Katastrophengeschehen in einem Gesamtzusammenhang zu sehen und dabei nicht ausschließlich auf das furchtbare Leid des Faktischen sowie auf die Hoffnung, dass es bald vorbei sei, fixiert zu bleiben. Dazu sollen zunächst drei Fragen und Hypothesen vorangestellt werden:
Von wo könnte eine schreckliche Katastrophe ihren Sinn bekommen?
Die Katastrophe hat von sich aus – als Eigenschaft an sich – keinen Sinn. Sie bekommt ihn erst von mir beigemessen, je nachdem wie ich sie in ihren Gesamtzusammenhang sehe und erkenne.
Will und kann ich Katastrophen überhaupt verstehen?
Mit dem Erwachen des menschlichen (Selbst)Bewusstseins will der Mensch die Zusammenhänge des Lebens verstehen. Ich kann auch die Katastrophe in einem sinnvollen Zusammenhang verstehen, wenn ich dafür offen bin und sie – unter beständiger Würdigung des damit verbundenen Leids – auch in ihren positiven Auswirkungen anerkenne.
Ist es in einer Katastrophe wie jetzt im Ukrainekrieg nicht unsensibel, nach einem Sinn zu fragen?
Da die Sinnsuche auch ein intellektueller Prozess ist, hat sie gegenüber dem Leidempfinden unter anderem eine Abwehr- oder besser eine Schutzfunktion. Die gestellte Frage impliziert, dass es vielleicht angemessener sei, Mitgefühl aufzubringen und das Leid der Betroffenen zu teilen, um so seinen Beitrag zu ein wenig Trost zu leisten. Doch genau in diesem Entwicklungsprozess vom Leid zu Mitgefühl und Trost könnte etwas wie Sinn gefunden werden.
Unter dem Begriff Katastrophe wird jede Schadens- und Gefahrensituation verstanden, die für eine größere Anzahl von Menschen mit existenzieller Bedrohung und Schäden an Leib und Leben verbunden sind. Dabei ist es unwesentlich, ob die Katastrophe durch Naturereignisse, Seuchen, technische Unfälle, Kriege, Terrorismus oder sonstige Großschadensereignisse ausgelöst wurde. Viele Menschen verlieren durch eine Katastrophe gleichzeitig materielle und ideelle Güter: Existenz – materielle Grundlage –, Gesundheit, Heimat, Angehörige, Geborgenheit usw. Das wesentliche Merkmal aller Katastrophen, Hungersnöte, Kriege und Seuchen ist das damit verbundene Leid. Das Leid resultiert aus dem Mangel bzw. dem Verlust von Wertvollem. Dieses Wertvolle kann alles Mögliche sein: meine Lieben sowie meine und deren Gesundheit und Unversehrtheit, Heimat, Vermögen, Haustier, materielles Auskommen, (Bewegungs-)Freiheit, Rechte, Zugang zu Ressourcen. Ebenso kann mein Leid aus meiner jeweiligen Identifikation und meinem Mitgefühl mit mir Nahestehenden resultieren. Ein weiteres Merkmal der Katastrophen ist, dass viele Menschen gleichzeitig davon betroffen sind und somit dasselbe Schicksal teilen. Es besteht in Katastrophen demnach eine Schicksalsgemeinschaft. Trotzdem kann sich jemand allein gelassen und ausgeschlossen fühlen. Das geschieht dann, wenn sich jemand sein Mitgefühl versagt; sein Mitgefühl mit den anderen bzw. sein Mitgefühl mit sich selbst.
Bis heute fragen die Menschen ‒ notwendigerweise ‒ immer wieder neu nach den Ursachen von leidvollen Katastrophen aller Art. Dass aber die wechselnden und oft widersprüchlichen Antworten darauf mal mehr und mal weniger sinnvoll erscheinen und erst recht nicht „befriedigend“ sein können, kann man ebenfalls voraussetzen. Denn keine noch so gute Begründung kann all das mit diesem Schrecklichen verbundene Leid ungeschehen machen. Die Opfer dieser Katastrophen sind in jedem Fall zu würdigen, da sie durch moralisch, religiös, politisch oder anderweitig begründete Erklärungen und Schuldverteilungen nicht geheilt werden können: Leid kann nicht durch Schuldverteilung, sondern nur durch Mitgefühl, Herzensgüte und Liebe getröstet und aufgehoben werden.
Noch kritischer als die Ursachensuche ist die Frage, wozu dieses ganze sinnlos erscheinende Leid geschieht. Wenn das Leid von vornherein als sinnlos erklärt würde, erübrige sich die Frage nach dem wozu. Manche Religionen geben die Antwort, das Leid sei die Strafe für Verfehlungen und solle die Menschen auf den Pfad der Tugend zurückführen. Diese Argumentation macht dann auch wie im Alten Testament vor der Tötung von Erstgeborenen nicht halt, die sterben müssen, um die „Bösen“ unter Druck zu setzen; quasi eine göttliche Tat zur Errettung der „Guten“, die dem „richtigen Herrscher“ dienen. Doch es lässt sich auch ein anderer Zusammenhang herstellen, in dem das Leid über die Entfaltung von Mitgefühl, Güte und Nächstenliebe seinen Nutzen und somit seinen Sinn erhält.
Dabei ist zunächst festzustellen, dass jeder Betroffene erst einmal für sich allein unter Beteiligung seiner eigenen, individuellen dafür zuständigen neuronalen Netzwerke leidet; auch wenn es sich dabei konkret um Mitgefühl bzw. um „Mit-Leid“ mit anderen Menschen handelt. In meiner persönlichen Wahrnehmung des fremden Leids erscheint mir dieses umso gewaltiger, je mehr Personen vom Leid betroffen sind. Das Leid in einer Katastrophe erscheint ‒ von außen betrachtet ‒ als eine Anhäufung von Leid apokalyptisch und unerträglich, während es für den einzelnen Betroffenen in der Katastrophe als geteiltes Leid erträglicher in einer solchen Leidensgemeinschaft ist, als wenn es ihn ganz allein (be)treffen würde. Aller Erfahrung nach ist es in Wirklichkeit so, dass der einzelne Mensch in einer Not- bzw. in einer Leidensgemeinschaft sich durch diese Gemeinschaft ein Stück weit getragen fühlt und dadurch eben weniger leidet.
Zunächst ist es das Individuum, das jeweils für sich leidet: Ich bin es, der das Leid empfindet; sei es mein eigenes oder mitfühlend das Leid anderer Menschen. Wenn ich nur mein eigenes Leid in einer Katastrophe wahrnehme, grenze ich mich damit von den anderen ab und erlebe mich mit meinem Leid von anderen ausgeschlossen und isoliert. Nehme ich dabei gleichzeitig noch das Leid anderer – Mitleidender – wahr, bin ich verbunden. Diese Verbundenheit kann auch durch das Mitleiden eines nicht unmittelbar von der Katastrophe Betroffenen entstehen, dem ich als Katastrophenopfer leidtue bzw. der mit mir mitfühlt.
In einer Katastrophe, die mich oder mir Nahestehende unmittelbar betrifft, werde ich mich eher einer Schicksalsgemeinschaft zugehörig fühlen, als wenn ich ‒ weit entfernt von mir ‒ etwas von der Hungersnot in Nordkorea höre. Von daher ist es verständlich, wenn jetzt Polen und Slowaken im Ukrainekrieg eine viel größere Hilfsbereitschaft zeigen, als sie diese Kriegsflüchtlingen aus weiter entfernten Ländern entgegenbrachten. Für mich als nicht unmittelbar Betroffenen, der Anteil nimmt und mitfühlt, ist es ein Unterschied in meiner Leidensintensität, ob das Leid „weit weg“ oder in meiner Nähe ist. Das kann zwar auch mit der räumlichen Entfernung zu tun haben, hängt aber mehr vom Grad meiner Identifikation mit dem bzw. den Leidenden ab. Je mehr ich mich mit dem oder den Leidenden identifiziere, desto mehr leide ich mit.
Damit lässt sich eine weitere Bedingung bzw. ein Grund des Leids benennen: Ich leide, weil ich ein fühlender und mitfühlender Mensch bin, der sich mit dem Leid anderer identifiziert und zwar umso mehr, je mehr mir die Betroffenen gleichen bzw. ich mich ihnen gleichmache.
Hier fallen möglicherweise der Grund, also warum ich leide, und der Zweck, nämlich wozu ich leide, zusammen: Ich leide, weil ich ein fühlender Mensch bin, und ich leide, damit ich Leid wahrnehme und mich mittels meines Mit-Fühlens verbinden kann. Diese Wahrnehmung des Leids – sowohl des eigenen Mitleidens als auch des eigentlichen Leids der Betroffenen – ist besonders in Katastrophen not-wendig. Normalerweise lösen Katastrophen eine große Anteilnahme und dank des Mitgefühls eine große Hilfsbereitschaft aus; und zwar besonders bei denen, die sich am meisten mit den Opfern der Katastrophe und ihrem Leid identifizieren. Es ist also für die Hilfsbereitschaft, für die Solidarität und Barmherzigkeit entscheidend, inwieweit ich in den Betroffenen die mir Gleichen und ihr Leid als mein Leid fühlend anerkennen kann.
So stelle ich bei mir selbst fest, wie viel bedrückter meine Stimmung mit Trauer und
Sorge seit dem Beginn des Krieges ist, nachdem diese vorher unter dem Eindruck
sinkender Coronafälle leichter geworden war; obwohl ja all die schrecklichen Kriege
im Nahen Osten, Afghanistan, Äthiopien, Jemen usw. mit all ihrem Leid und ihrem
Flüchtlingselend unvermindert weiter bestehen. Doch das ist weiter weg und schon
quasi Gewohnheit geworden. Somit habe ich mit diesem Leid weniger mitgelitten.
Wenn es aber so ist, dass ich mit mir Gleichen bzw. mit mir gleichenden Menschen mehr mitfühlen kann, müsste ich mit meinem eigenen Leid am stimmigsten mitfühlen können, da ich mir selbst am meisten gleiche. Und so ist ja meist auch, wenn ich nicht Schmerz und Trauer verleugne oder verdränge. Je mehr ich bereit bin, meinen Schmerz, mein Mitgefühl und meine Trauer zu spüren, also bereit bin, Mitgefühl mit mir zu haben, desto stimmiger kann ich auch das entsprechende Leid im anderen Menschen oder auch Tier wahrnehmen. In dieser Abgleichung meiner Leiderfahrung mit dem Leid des anderen mache ich mich dem anderen Menschen gleich, unabhängig von welchen Unterschieden zwischen uns auch immer. Das impliziert, dass die Entwicklung, Befreiung und Ausweitung meines Mitgefühls mit mir selbst, mich zunehmend stimmiger des anderen Leid spüren lassen und uns gerade dadurch immer gleicher machen. Da letztlich jeder Mensch und jede Kreatur auch in der schmerzlichen Situation des dem werdenden und sterbenden Leben Ausgesetzt-Seins ist, bin ich als mitfühlender Mensch grundsätzlich in der Lage, in jedem Menschen den mir Gleichen zu empfinden, zu verstehen und anzunehmen, statt auf das zu schauen, was uns trennt. Und diese Entscheidung ist es, mit der ich mich entweder in den Himmel der Verbundenheit oder in die Hölle der Isolation versetze.
Natürlich kann es mir – vorläufig – gerade auch im Unterschied zum Leidenden als der
„Davongekommene“, der sich nicht mitfühlend gleichmacht, eine Zeit lang gutgehen.
Doch spätestens im Sterben erlebe ich die Isolation wegen meines mangelnden Mitgefühls.
Dass es auch andere als mitfühlende Gefühlsreaktionen bzw. Umgehensweisen mit Katastrophen gibt, ist offensichtlich. Die dramatischen Hunger-, Gesundheits-, Kriegs- und Flüchtlingskatastrophen in aller Welt und ‒ erst recht die Klimakatastrophe ‒ werden von vielen geleugnet. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: Die Verantwortlichen, wie Autokraten, Minen- oder Kraftwerksbetreiber, die z. B. Wasser vergiften, haben verständliche Gründe, eine Katastrophe zu leugnen; Kriegstreiber und Kriegsgewinnler ebenfalls. Doch es gibt noch weitere verständliche Gründe, sie zu leugnen: Die furchtbaren Zustände in Syrien, Afghanistan, Somalia, Mali, Libyen und anderen, die ständig katastrophale Flüchtlingsströme auslösen, werden von vielen nicht so recht – zumindest nicht mitfühlend – wahrgenommen oder heruntergespielt. Dies wird vielmehr als Bedrohung für das eigene Wohlergehen bzw. für die eigenen Ressourcen empfunden. Um seine eigensüchtige Haltung, fehlendes Mitgefühl und fehlende Solidarität ‒ zu rechtfertigen, spricht man sogar entwertend von Kriminellen oder verharmlosend von Wirtschaftsflüchtlingen.
Wenn Menschen wie Trump oder Bolsonaro ‒ und viele andere ‒ die Klimakatastrophe oder die Coronapandemie leugnen und wenn Putin in Russland in seinem Einflussbereich keine abweichenden freiheitlichen Bestrebungen duldet, dann hat das etwas mit einem narzisstisch geprägten Bewusstsein zu tun. In diesem noch von kindlichen Allmachtsfantasien geprägten Bewusstsein darf es nichts geben, was sich der eigenen Kontrolle entzieht. Aber genau vor dem Hintergrund des gerade Beschriebenen lassen sich Mitursachen von Katastrophen bzw. Katastrophenfolgen verstehen: Dummheit, Anmaßung, Besitzgier, Rücksichtslosigkeit, Verleugnung bzw. mangelnde Demut, fehlende Solidarität, mangelndes Mitgefühl und mangelnde Mitmenschlichkeit.
Treffen Betroffene bzw. Flüchtlinge in ihrem Leid und in ihrer Not auf Mitgefühl, Solidarität und Mitmenschlichkeit, wird die Katastrophe in dieser Leidensgemeinschaft abgemildert und überwunden. Wenn sie auf Menschen treffen, die nicht bereit sind, in den Leidenden die ihnen Gleichen zu sehen, die ihren Eigennutz mit Anspruch auf Höherwertigkeit an oberste Stelle setzen – auserwähltes Volk, deutsche Herrenrasse, „America first“, Großrussland – verschlimmert dies die Katastrophe.
Doch gerade die auf ihren Eigennutz bedachten, von ihrem narzisstischen Bewusstsein geprägten Menschen geraten auf ihre spezifische Weise mit in die Katastrophe hinein, wie man beispielhaft an den häufig paranoid gestimmten Pegidaanhängern, Reichsbürgern oder Querdenkern und erst recht bei all den paranoiden Diktatoren wie Nero, Hitler, Stalin, Mao und vermutlich auch Putin beobachten kann. Das hat verschiedene Gründe: Sie glauben letztlich nicht an Mitgefühl und den freiwilligen Zusammenhalt in der Gesellschaft und leben daher in einer ständigen Verunsicherung und Angst. Sie glauben – und damit haben sie für sich ja auch bedingt recht –, dass sich jeder selbst der Nächste sei; dass Menschen Egoisten sind und „der Mensch des Menschen Wolf“ (Thomas Hobbes) ist.
Grundsätzlich lässt sich nach alldem vermuten, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Leid und der Schwere besonders der von Menschen gemachten Katastrophen wie Kriege, Ausbeutung, Versklavung bzw. Unterdrückung z. B. aller Oppositionellen in Russland sowie einer narzisstischen Bewusstseinsprägung; ein Bewusstsein, das einseitig auf einen Heilsegoismus – „meine Rettung, mein Heil zuerst“, „Hauptsache, ich sichere meine Macht, meinen Reichtum“, „mein Volk zuerst“ – ausgerichtet ist.
Wenn es aber so ist, dass sich die jeweilige Prägung des Bewusstseins auf das Ausmaß und den Verlauf einer Katastrophe auswirkt, dann vermag ich auch meinen aktiven Beitrag zu leisten, um eine Katastrophe abzumildern. Das kann ich einmal mittels meines Bewusstseins selbst, da ich ja mit meinem Bewusstsein das gemeinsame Bewusstsein meiner Umgebung atmosphärisch und informativ mitbestimme.
Erklärung: Zunächst bestimme ich in und mit meinem kulturell vorgeprägten,
vorgedanklichen Bewusstsein, was ich fühle, denke und tue bzw. unterlasse.
Gleichzeitig steht mein Bewusstsein ‒ über meine Sinnesorgane und mittels
meiner Spiegelneurone ‒ im Austausch mit meiner Umgebung und somit auch
mit dem Handeln, Denken, Fühlen sowie den Bewusstseinen meiner Mitmenschen
und gleicht sich damit ab.
Je mehr ich also mein zunächst natürlicherweise mehr narzisstisch geprägtes
Bewusstsein dank meiner Spiegelneurone und meiner im frontalen Sozialhirn
lokalisierten „Mitgefühl- und Solidaritätsnetzwerke“ entwickele und das Wohl der
anderen zu meiner Sache mache, desto mehr bestimme ich mein Bewusstsein durch
Mitgefühl und Liebe; und gleichzeitig bestimme ich auch in diesem Sinn das
kollektive Bewusstsein, mit dem ich als ein integraler Teil verbunden und eins bin.
Darüber hinaus kann ich natürlich durch mein konkretes Handeln die Katastrophe mit abmildern, indem ich die Anstrengungen anderer Katastrophenhelfer ‒ wie beispielsweise die vielen Helfer im Ahrtal oder durch Spenden oder durch Informationen und Werben und durch solidarische Aktionen für die Ukraine ‒ unterstütze. Auch in einer Epidemie kann ich auf den Anderen achten, indem ich Abstand halte oder Kontakte vermeide. Dabei setzt ein solches Verhalten auch wiederum bereits ein dementsprechendes Bewusstsein voraus, welches durch dieses soziale Verhalten zugleich verstärkt und ausgeweitet wird. Entscheidend aber ist es, mir bewusst zu machen, dass ich mit jeder Form des narzisstisch geprägten Egozentrismus ‒ sei es der engere: „ich zuerst“, der weitere: „ich und die Meinen zuerst“ oder noch weiter gefasst: „ ich und mein Volk zuerst“ ‒ Katastrophen bzw. Katastrophenfolgen begünstige und sie umgekehrt durch mein Mitgefühl abmildere. Dabei ist es natürlich auch für mich selbst zunächst schmerzlich, mich in meiner mitfühlenden Identifikation mit den Opfern in ihrer Not und Sorge verbunden und gleich zu fühlen. Doch ich kann mich dabei auch mit der Tatsache trösten, dass das Maß meiner Not und meiner Sorge dabei ebenso das Maß meines Mitgefühls und meiner Barmherzigkeit ist.
Als Christ kann ich mich noch zusätzlich durch die Zusage Jesu in seiner Bergpredigt ermutigt fühlen, dass die Barmherzigen selig sind (Mt.5,7); und dass den Barmherzigen das Königreich gewiss ist (Mt.25,34). Doch auch abgesehen von dieser Botschaft Jesu kann ich mich selbst prüfen, wie ich angesichts des Leids in der Ukraine lieber empfinden möchte: teilnahmslos gleichgültig oder anteilnehmend traurig und sorgenvoll. Das bedeutet, dass ich mich zusätzlich mit meiner Wertschätzung für mein Mitleiden trösten kann. Darüber hinaus kann ich dann noch die Erfahrung machen, dass ich aus mir heraus eine frohe Erfüllung und Genugtuung erlebe; und zwar umso mehr, je bereitwilliger ich mich anteilnehmend eingelassen habe.
Es ist natürlich und so in gewisser Weise selbstverständlich, dass meinem sozialen Geist bzw. Bewusstsein, das vielleicht unaufhörlich und unparteiisch Mitgefühl und Anteilnahme in die Welt verströmen möchte, vererbte und kulturell vorgegebene archaische Programme und daraus abgeleitete Verhaltensmuster entgegenstehen: Erst einmal fühle ich mich meinem Wohl und dem meiner eigenen Art verbunden und verpflichtet und bevorzuge daher diese. Dass sich diese Parteilichkeit selbst im religiösen Glaubensbewusstsein von Kirchen, die sich christlich nennen, niederschlägt, und sie so ihren Heilsauftrag nur auf die eigenen Gläubigen beziehen, zeigt, wie tief diese Parteilichkeit wurzelt: Die im religiösen Glauben größte Katastrophe ist das Strafgericht Gottes. Aber auch die katholische – allumfassende – Kirche sieht ihre Aufgabe wie auch andere Konfessionen lediglich darin, die von ihr sakramental Betreuten vor der Katastrophe der Hölle zu bewahren. Das ist ebenfalls narzisstisch geprägter Heilsegoismus. Letzterer steht in der Tradition des Alten Testaments, wurde jedoch durch Jesus definitiv aufgehoben, indem er sein Heilswirken auf alle Leidenden ausgeweitet hat. Dabei soll an dieser Stelle ausdrücklich betont werden, dass der Heilsegoismus eine natürliche und notwendige Seite der menschlichen Selbstbehauptung in diesem vergänglichen Leben ist; was aber letztlich aufzuheben ist. Dieser Heilsegoismus ist es dann auch, der Katastrophen in ganz unterschiedlichem Licht erscheinen lässt. So wurde die Katastrophe in New York am 11. September von vielen – als Gottesstrafe – mit Genugtuung und mit Schadenfreude auf den Straßen tanzend gefeiert.
Dass es solche von Menschen gemachten furchtbaren Katastrophen sowie grausame und ungerechte Kriege gibt, unter denen die Menschheit leidet, ist eine nicht zu leugnende Tatsache. Doch wie am Beispiel des 11. September deutlich wird, sind trotz der scheinbar klar negativen Bedeutung des Begriffs Katastrophe große Unterschiede zu beobachten, was als Katastrophe empfunden und bezeichnet wird. Es gibt sicher eine Schnittmenge bezüglich der negativen Bedeutungsgebung durch die meisten Menschen – z. B. im Hinblick auf Naturkatastrophen. Aber genauso gibt es große Unterschiede, was jemand als Katastrophe im Zusammenhang mit einem grausamen bzw. gerechten oder ungerechten Krieg ansieht. Statt von einer Katastrophe zu sprechen, feiern manche Heldentaten – z. B. „großer vaterländischer Krieg“ – und Siege. Diese unterschiedlichen Deutungen bzw. Bewertungen von Katastrophen, entweder z. B. als Gottesstrafe oder auch – andere Perspektive – als göttliche Rettungstat haben eine lange Tradition. So haben im für unsere Kultur bewusstseinbildenden ältesten Narrativ, im Alten Testament, die biblischen Katastrophen, mit denen Jehova die Ägypter strafte – bis hin zum Erschlagen der nicht-israelitischen Erstgeborenen – für Juden und Christen die Bedeutung von „Bestrafung“ der Ägypter bzw. von „Rettung“ der Israeliten. Daher werden diese Katastrophen auch heute noch von Juden und Christen als Befreiungstaten gefeiert. Hier haben die Katastrophen in Wirklichkeit die Funktion von Trosterzählungen: Der mächtige Gott kämpft gegen die Feinde der Rechtgläubigen, die ihm dienen. Das impliziert gleichzeitig, dass Katastrophen etwas mit Schuld und der gerechten Strafe Gottes zu tun haben. Was gerecht ist, wird hierbei jeweils an heilsegoistischen Wertvorstellungen besonders der Eliten eines Volkes ausgerichtet. Dabei nehmen die religiösen Autoritäten für sich in Anspruch, die Gerechtigkeit Gottes zu kennen.
Ich möchte nochmals ausdrücklich betonen, dass die beschriebene heilsegoistische
Parteilichkeit eine natürliche, das Eigene bevorzugende Seite von mir und jedem
Menschen ist. Sie ist zunächst im Interesse der eigenen Art notwendig; dennoch gilt
es, sie ‒ zum Wohle aller Menschen und des Ganzen ‒ aufzuheben.
Darum sagt Jesus, als die Personifizierung von Mitgefühl, sowie von grenzenloser
Solidarität mit den Menschen und der bedingungslosen, nicht an Vorlieben (wie z. B.
Verwandte) gebundenen Liebe: „Wer seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder,
Schwestern, sein eigenes Leben nicht hasst, kann nicht mein Jünger sein“(Lk. 14,26).
An anderer Stelle (Mt. 12,47) geht Jesus nicht zu seiner Mutter und seinen Brüdern,
die draußen auf ihn warten, mit dem Hinweis, dass jene Menschen seine Mutter und
seine Brüder seien, die Gottes Willen tun; das heißt, die ihm in der bedingungslosen
Liebe folgen. Damit hebt er die bevorzugte Ausrichtung seiner Liebe auf
Verwandte zugunsten einer alles umfassenden, unbedingten Liebe auf; so wie er sie
selbst ‒ letztlich bis zur äußersten Selbstaufgabe ‒ vorgelebt hat.
Es ist nicht möglich, diese von der Natur vorgegebenen „Programme“ – den eigenen Überlebenswillen und die Bevorzugung der eigenen Art – in uns ganz abstellen oder gar entfernen zu wollen. Doch diese Programme können im Zuge der menschlichen Entwicklung des Bewusstseins aufgehoben werden. Sie erlöschen von selbst mit dem Sterben.
Hier soll es nun nicht um solche Opfer – z. B. sich von Geliebten abzuwenden – gehen. Es soll auch nicht darum gehen, meine mitfühlende Fürsorge und (Vor-)Lieben zu unterdrücken, sondern Ziel ist es, mich immer weniger auf diese (Vor-)lieben zu beschränken. Es geht darum, mein Mitgefühl immer mehr auszuweiten und damit auch meine Liebe. Da die Liebe die Kraft ist, die sich mitteilen und immer weiter ausdehnen will – vielleicht dehnt sich wegen dieser Liebeskraft auch das Universum immer weiter aus –, kann ich die Liebe nicht besitzen. Ich kann sie nur wirken lassen. Wenn ich sie besitzen und dementsprechend behalten wollte, blockiere ich sie.
Hier – im Festhalten – kann ich nun eine weitere Mitursache für das Leid in Katastrophen vermuten. Katastrophen sind ja ‒ laut Definition wie oben ‒ Großschadensereignisse, in denen Wertvolles wie z. B. Nahrung, Wasser, Gesundheit, Heimat, Gemeinschaft mit Geliebten usw. beschädigt wird, verloren geht oder/und ein großer Mangel an Wertgütern herrscht. Katastrophen sind also grundsätzlich immer dadurch gekennzeichnet, dass ich etwas Wertvolles nicht mehr habe bzw. nicht mehr besitze, was ich aber behalten bzw. haben will. Je mehr ich in der Katastrophe ‒ gerechterweise – für mich das haben oder halten will, was verloren geht, desto quälender und beängstigender erlebe ich sie. Hinzu kommt, dass ich mit meiner Qual und meiner Verlustangst, in der ich festhalten will, meine Liebe blockiere, die sich dem Nächsten mit-teilen will. Wenn ich diese Mitursache von katastrophaler Not mit Bewegungsmustern beschreiben wollte, so geht die Katastrophe zunächst damit einher, dass ich mich in einer Art Schutz suchenden Verteidigungshaltung verschließe, den Fluss meiner Energie und Liebe – das, was aus mir heraus nach außen strömen will –, eindämme und damit unfähig bin, mich der Welt zu öffnen.
Vor diesem Hintergrund solcher Faktoren im Zusammenhang mit Katastrophen lassen sich Hypothesen einer möglichen Sinngebung ableiten, ohne damit den mit der Katastrophe einhergehenden Schmerz und das Leid verharmlosen zu wollen. Dieses Leid soll ausdrücklich bleibend als Leid gewürdigt werden. Mit der bleibenden Würdigung des Leids gebe ich ihm Bedeutung und Sinn. Ein weiterer sinnvoller Nutzen wäre die sich dadurch entwickelnde Befähigung, sich zunehmend unter allen noch so katastrophalen, leidvollen Umständen mitfühlend und liebevoll annehmen zu lernen. Das bedeutet gleichzeitig die Öffnung zum Ganzen hin. Der Sinn in diesem Kontext wäre dann, sein Mitgefühl und seine Liebe immer weiter zu entwickeln und von den Lebensumständen zunehmend unabhängig zu machen.
Schmerz und Leid an und für sich betrachtet sind absurd und entziehen sich so für einen nach erfülltem und lohnendem Leben strebenden Menschen einer Sinngebung. Es wäre also in der isolierten Betrachtung von Schmerz und Leid unsinnig, überhaupt nach dem „wozu“, dem Sinn oder Nutzen der Katastrophe zu fragen. Der einzige Lebenssinn wäre dann, die Katastrophe zu vermeiden. Da die Vermeidung aber letztlich unmöglich ist, wäre das ganze in Leid und Tod endende Dasein sinnlos. Doch Leid und Schmerz gibt es nicht an und für sich, sondern immer nur im Kontext des gesamten Menschenlebens. Von daher ist die Frage nach dem Sinn grundsätzlich nur im gesamten Lebenszusammenhang angemessen.
Gleichzeitig möchte ich betonen, dass nichts, gleichsam als eine Eigenschaft, einen Sinn an sich hat, sondern dass nur ich es bin, der Sinn beimessen kann oder eben nicht. Sinn ist ein Beziehung stiftendes Medium. Nach Niklas Luhmann leben wir in einem Medium von Sinn. Selbst wenn wir etwas für sinnlos erklären, macht das nur innerhalb des Mediums Sinn Sinn.
In diesem Zusammenhang möchte ich Victor Frankl, der die Katastrophe verschiedener Konzentrationslager durchlebte, zitieren: „Wer von denen, die das Konzentrationslager erlebt haben, wüsste nicht von jenen Menschengestalten zu erzählen, die da über den Appellplatz oder durch die Baracken des Lagers gewandelt sind, hier ein gutes Wort, dort den letzten Bissen Brot spendend? Und mögen es auch nur wenige gewesen sein – sie haben Beweiskraft dafür, dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein so oder so! Wenn Leben überhaupt einen Sinn hat, dann muss auch Leiden einen Sinn haben. Denn, wenn nicht, dann hätte es letztlich auch keinen Sinn, das Lager zu überleben. Denn ein Leben, dessen Sinn damit steht oder fällt, dass man mit ihm davon kommt oder nicht, ein Leben also, dessen Sinn von Gnaden eines solchen Zufalls abhängt, solch ein Leben wäre nicht eigentlich wert, überhaupt gelebt zu werden.“ (Hervorhebung durch den Verfasser)
Würde man das Leid nur einzeln für sich betrachten, hätte es keinen Sinn, da sich Sinn nur im übergeordneten Zusammenhang bestimmen lässt: Sinn ist – nach Luhmann – die Einheit der Differenz von Aktualität und Potenzialität. Das aktuelle Leid verweist mich sowohl auf meinen Unterschied zur grenzenlosen Potenzialität bzw. auf Gott – ein Name für diese unendliche Potenzialität – als auch auf meine Einheit mit ihr. Ich kann auch sagen: Ich leide, weil ich mich von etwas getrennt erlebe, mit dem ich in Wirklichkeit immer verbunden und eins bin.
Aber nur durch das schmerzliche, leidvolle Trennungserlebnis kann mir diese Einheit bewusst werden. Der Schmerz zeigt eine Ablösung von etwas Verbundenem an, wobei diese Ablösung gleichzeitig eine Öffnung bedeutet. Ich öffne mich dabei grundsätzlich dem Ganzen. Am Beispiel der Geburt lässt sich dieser Prozess veranschaulichen und verständlich machen:
Die Geburt mit ihrer schmerzhaften Trennung von Mutter und Kind und den Wunden,
die diese in Gebärmutter, Plazenta und dem Nabel zurücklässt, ist ein Musterbeispiel
für diese schmerzliche Ablösung und Trennung zugunsten einer Öffnung hin zur Welt.
Das letzte schmerzliche Ablösen von allem Vergänglichen ist das Sterben, das bei
den Hinterbliebenen zunächst schmerzhafte Wunden hinterlässt.
Im Sterben selbst wird die letzte Ablösung von Vergänglich-Wertvollem, von zeitlich
begrenzten Vorlieben verschmerzt, um sich dadurch dem zeitlosen Ganzen zu öffnen.
Die Berichte von Nahtoderfahrenen und von Nachtodkontakten – Kontakte von
Verstorbenen mit Hinterbliebenen – sprechen für eine bleibende Verbundenheit.
Ich kann den Sinn des Leids und der Katastrophen auch so definieren: Schmerz und Leid sind ständige Begleiter und Katalysatoren meines Bewusstwerdungsprozesses sowie meiner Individuation bzw. meiner Selbstwerdung. Im Schmerz sowie im Leid und durch dieses erlebe ich mich als ein Subjekt im Gegenstand bzw. im Unterschied zur Welt und zu allen anderen menschlichen „Objekt-Subjekten“ – Menschen sind Subjekte, die sich selbst auch als Objekt betrachten können. Wenn ich dabei mein Augenmerk auf meine Subjekt-Objekt-Erfahrung richte, dann erlebe ich mich in einer heillosen existenziellen Selbstisolation der Befremdung, in der Absurdität, die Camus beschreibt.
Dagegen kann ich mich mittels meiner Spiegelneurone und meiner im Stirnhirn lokalisierten „Selbst-Systeme“ gleichzeitig wie das andere Subjekt erleben. Ich bin dann durch einen „vertikalen und horizontalen Selbsttransfer“ (Joachim Bauer) – man könnte es auch reziproken Selbsttransfer nennen – in einer identifikatorischen verbundenen gemeinsamen Subjekt-Subjekt-Resonanz. Es lässt sich vielleicht mit einem stimmigen (Tango)Tanz oder dem Geschehen in Vogel- oder Fischschwärmen vergleichen. Je weiter und umfassender ich nun ‒ dank meines Mitgefühls – diesen reziproken Selbsttransfer vornehmen kann und im anderen nicht den Fremden, sondern vielmehr den Gleichen sehe, desto bedingungsloser kann ich mich in dieser Einheit geborgen fühlen. Je weiter ich diesen Selbsttransfer ausdehne, je mehr ich im Fremden den Gleichen und darin mich sehe, desto mehr expandiere ich mein Geborgensein. Dies kann dann über die annehmende Identifikation mit meinem Feind bis hin zur Begegnung mit meinem „Adam“ in meiner Hölle sein; entsprechend dem Hinabsteigen Jesu in die Hölle, um dort seinem Adam zu begegnen, sich ihm gleichzumachen und im Gleichsein erlöst zu sein. Ob ich dem Himmel oder der Hölle begegne bzw. im Himmel oder in der Hölle bin, ist letztlich immer eine Frage meines Bewusstseins; ob ich dem, was in mir, mit mir und um mich ist, ablehnend oder liebevoll begegne.
Die Katastrophe begünstigt ‒ durch die Wahrnehmung gemeinschaftlichen Leids bzw. durch das Mitfühlen ‒ eine Verbundenheits- und Einheitserfahrung, die alle Menschen einbezieht; alle außer denjenigen, die sich heilsegoistisch aus dem Leid heraushalten wollen. Indem ich mich der Katastrophe öffne, erfahre ich ihre Relativität und Paradoxie: Von außen betrachtet, erscheint sie mir nur furchtbar sinnlos und schrecklich. In ihr aber kann ich ‒ dank meines Mitgefühls ‒ Verbundenheit, Solidarität und sogar Geborgenheit erleben, falls ich mich nicht selbst in meiner Not verschließe und abkapsele bzw. mich bewusst aus der Not der anderen heraushalte, sondern dem Leidenden mitfühlend und solidarisch zuwende.
Diesen Zusammenhang beschreibt Jesus gleichnishaft in Mt. 25,34: „Dann wird der König denen zu seiner Rechten sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“
Durch die Not der Leidenden und das Mitgefühl der Mitleidenden bilden Leidende und Mitleidende eine Leidensgemeinschaft, durch die und in der das Leid aufgehoben wird. Was dabei bleibt, ist der Himmel der Verbundenheit sowie die alles umfassende Einheit derer, die im Mitgefühl miteinander verbunden sind. Diejenigen, die sich dabei ausschließen, sind in der „Hölle ihres Ausgeschlossenseins“.
Angesichts der doppelten Aufgabe meiner Menschwerdung im Menschensein ‒ sowohl mein Selbst im Selbstbewusstsein zu entwickeln und mich als individuelles Selbst zu behaupten als auch mich gleichzeitig als unverlierbaren, integralen Teil eines Ganzen immer bewusster zu erleben ‒ wirken Katastrophen gleichsam als Katalysator. In ihnen schaffe ich es durch mein Mitgefühl, meine Solidarität und meine Fürsorge, mich etwa als Arzt anderen hilfsbedürftigen Menschen – z. B. einem an Corona erkrankten Reichsbürger –, dem ich in meinem Alltag gleichgültig oder vielleicht sogar ablehnend begegnet wäre, sorgsam zuzuwenden. Dabei hebe ich meinen persönlichen und auch erweiterten – meine Angehörigen bzw. Vorlieben betreffenden – Heilsegoismus auf. Ich löse meine parteiische Orientierung auf und bin im mitfühlenden Leid solidarisch – abgeleitet vom lat. solidus „ganz, vollständig“ – und so im Ganzen aufgehoben. Besonders das Leid unter katastrophalen Umständen wirkt als Medium in diesem allparteilichen integrativen Heilungsprozess.
All das lässt sich in der Coronakrise ganz konkret beobachten: Unbekannte infizierte Patienten – gerade auch Impfgegner und Coronaleugner – kommen in die Kliniken und werden von Sanitätern, Schwestern, Krankenpflegern und Ärzten, trotz des eigenen Infektionsrisikos und der Folgerisiken für ihre Angehörigen, in engem Kontakt behandelt. Alle zusammen werden in verschiedenen Rollen qua Fürsorge zu einer Leidensgemeinschaft, vereint in dem Ziel, das Leid aufzuheben.
In der Begegnung mit Flutopfern an der Ahr sowie mit ihren Helfern wurde dieses Einswerden von Opfern untereinander, aber auch von Opfern und Helfern durch das Mitfühlen und durch das Teilen des Leids in teils erschütternd berührender Weise spürbar. Menschen von überall her haben unter dem Eindruck der furchtbaren Katastrophenbilder, mitfühlend mit dem Leid der Betroffenen, dieses Leid zu ihrem Leid gemacht und sich freiwillig all dem Grauenhaften von Tod, Chaos, Zerstörung, Schlamm, Gestank und Entbehrung ausgesetzt. In den Flutopfern selbst löste diese Zuwendung oft dramatische Gefühlswechsel aus: Aus tiefster Verzweiflung und Erschöpfung im Schlamm schlug die Stimmung bei unverhofftem Auftauchen von Helfern in eine unbeschreibliche Mischung von Erlösung, Freude, Dankbarkeit und Liebe um, was sich in einem ungehemmten befreienden Tränenfluss ergoss.
Ein gehbehinderter Patient, der wegen seiner Arthroseschmerzen schon einen Termin für eine Hüftgelenksoperation hatte, ackerte von morgens bis abends über Wochen ohne Schmerzen. Ein anderer Patient, den ich noch zwei Tage vor dem Flutereignis wegen seiner sehr schweren Depression in die Klinik einweisen wollte, kam zum Folgetermin eine Woche nach der Flut – da ich selbst von der Flut betroffen war, konnte ich einige Tage keine Termine bedienen –, um mir mitzuteilen: „Ich bin nur gekommen, um ihnen zu sagen, dass ich keine Behandlung mehr brauche. Ich habe zwar bei der Flut alles verloren; aber was ich an Schrecklichem und Beglückendem erlebt habe,ist unbeschreiblich. Ich weiß jetzt, was Leben bedeutet.“
Besonders berührend sind dabei die Erfahrungen, dass die Menschen nicht nur bis zur Erschöpfung an der Beseitigung der Schäden arbeiteten, sondern auch noch die anderen neben sich im Blick hatten und auf deren Wohl achteten. Im Miteinander wurde eine Atmosphäre der Zärtlichkeit spürbar. Familien, Nachbarn, die teils über Jahrzehnte zerstritten waren, fanden wieder zueinander. Ein Patient, der durch die Flut mehrere Häuser verloren hat, und der vorher mit seinem Leben wegen dem, was ihm unerfüllt geblieben ist, chronisch unzufrieden war, sagte mir: „Ich brauche das alles nicht mehr, denn mein Leben hat jetzt mehr Leben.“
Im aktuellen Ukrainekrieg scheint eine nochmals dramatischere Dimension des furchtbaren Leids einerseits sowie andererseits mitfühlende Sorge, Solidarität, Barmherzigkeit, Herzensgüte und Opferbereitschaft auf: Helfer retten andere unter Einsatz ihres Lebens, Menschen stellen sich vor Panzer, auf der ganzen Welt wenden sich Millionen anteilnehmend den Ukrainern zu, von überall kommen Wellen der Hilfsbereitschaft und in Russland demonstrieren Menschen trotz harter Sanktionen. Hier tritt der Sinn, von dem Viktor Frankl spricht, offen zutage: die Inanspruchnahme der letzten menschlichen Freiheit, „sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen“ – unabhängig von der Frage, ob man mit dem Leben davonkommt.
Gerade in Katastrophensituationen bringen das Leid und das dadurch geweckte Mitgefühl offensichtlich die alles verbindende Kraft, die mich mit allen und allem zeitlos eins sein lässt, zur Wirkung: die Liebe. Gerade in Katastrophenzeiten wie in der Pandemie oder der Flutkatastrophe oder im Ukrainekrieg habe ich noch viel mehr die Freiheit als – wie von Viktor Frankl beschrieben – im Konzentrationslager: die Freiheit mich entweder von meiner berechtigten Angst um mich und meine mir nahestehenden Menschen oder von meinem Mitgefühl und meiner Liebe bestimmen und leiten zu lassen.
Im Zusammenhang mit der Frage nach dem konkreten – sinngebenden – Umgang mit Katastrophen lassen sich folgende Ausgangspunkte beschreiben:
Es gibt kein Leben ohne große sowie kleinere Katastrophen, und ich bin von ihnen immer in irgendeiner Weise selbst betroffen, auch wenn sie sich weit entfernt ereignen.
Es ist natürlich und legitim, sie vermeiden und umgehen zu wollen.
Es gibt sehr unterschiedliche Umgangsweisen mit Katastrophen, die alle innerhalb ihres speziellen Zusammenhangs verständlich sind: Sich selbst und die Seinen retten, Flucht, Beschönigung, Verleugnung, Heroisierung, Resignation („alles ist sinnlos“), wütende Suche nach Schuldigen, Kooperation, Bedeutungsgebung als Strafe Gottes, als göttliche Rettungstat, als tröstende Genugtuung, als Katalysator für Mitgefühl, Barmherzigkeit, Solidarität, aufopfernde Fürsorge, Mitmenschlichkeit, Persönlichkeitsentwicklung, Aufhebung heilsegoistischer Muster, fühlendes Verständnis für das Gewinnbringende im Schrecklichen, Vervollkommnung von Mitgefühl und Liebesfähigkeit.
Es ist entscheidend, mich selbst in meiner Auseinandersetzung mit der Frage nach dem konkreten Umgang mit Katastrophen wahrzunehmen, mir meiner Freiheit und meines ungeheuren Potenzials bewusst zu werden. Denn schließlich kann ich mich in all den verschiedenen Facetten des Umgangs mit Katastrophen bzw. meiner Einstellung dazu wiederfinden, wenn ich den Mut habe, mich fühlend darauf einzulassen. Ich erweitere mein Bewusstsein, meine Selbstannahme und meine Selbstbehauptung um weitere Freiheitsgrade, wenn ich mich selbstbestimmt meinem Erleben der Katastrophe sowie mit dem Erleben der anderen – wie sie die Katastrophe empfinden – aussetze und dabei nachhaltig bereichernde Erfahrungen mache. Ich bin sehr dankbar dafür, dass mir konkrete Beispiele für diese befreiende Erfahrung von so vielen aus dem Ahrtal mitgeteilt wurden. Dabei zählt besonders die Erfahrung des Trostes, der aus dem bereitwilligen Eingehen in die Verbundenheit einer Leidensgemeinschaft erwächst.
Die großen und kleinen Katastrophen werden nicht enden; doch gerade durch die Annahme des damit verbundenen Leidens und Mitleidens sind sie gleichzeitig Quelle des unerschöpflichen Mitgefühls, der Herzensgüte und der Liebe. Und sie garantieren genau dadurch – entsprechend dem Vorbild und der Botschaft Jesu Christi – die Erlösung.
All das furchtbare Leid besonders in Folge der Pandemie, der Umweltkatastrophen und der Kriege ist allgegenwärtig und alle Menschen auf der ganzen Welt sind in der einen oder anderen Weise direkt oder indirekt davon betroffen; selbst wenn es „nur“ durch die Preise für Weizen oder Benzin ist. Hinzu kommen die ganz persönlichen Katastrophen durch Trennung, durch Verluste von geliebten Menschen, durch Scheiter-Erfahrungen, durch Unfälle, durch schwere, chronische und unheilbare Erkrankungen, durch Hinfälligkeit und Tod. Es ist ungeachtet der Leidursachen immer die einzelne Person, die ihr wie auch immer geartetes Leid jetzt erleidet und die jetzt damit umzugehen hat; auch wenn in Katastrophen das Leid apokalyptisch erscheint.
Natürlich ist es dabei völlig legitim und tröstlich, davon zu träumen, wie einmal eine bessere Welt aussehen könnte; eine Welt, in der Frieden herrscht und alle eins sind. Man kann auch darüber spekulieren, ob die Abschaffung von Himmel und Hölle – was immer damit gemeint sein mag – oder die Abschaffung von Religionen und von Ländergrenzen dabei hilfreich sei. Doch alles das würde keinesfalls das Ende des menschlichen Leids aufgrund seines natürlicherweise werdenden und sterbenden Lebens bedeuten; und erst recht nicht jetzt. In diesem werdenden und sterbenden Leben erlebt sich jeder mal im Himmel und mal in der Hölle, und das wird auch – hoffe ich – noch möglichst lange so bleiben; falls es der Menschheit nicht gelingt, sich ganz abzuschaffen.
Da jeder Mensch aber stets nur jetzt lebt, geht es darum, einen tröstlichen und heilsamen Umgang mit dem Leid jetzt zu finden. Das gelingt mir aber nur, indem ich Frieden mit mir und dem, was jetzt gerade mit mir ist, mache. Etwas abschaffen zu wollen, bedeutet dagegen Kampf. In den Sechzigern hieß es: Fighting for peace is like fucking for virginity. Da ich das dem Leben immanente Leid letztlich nicht erfolgreich bekämpfen kann, lässt sich der Frieden nur in der Annahme des Leids finden; und zwar jetzt. Das gelingt mir umso besser, je mehr ich eine fühlende Einsicht und ein fühlendes Verständnis dafür gewinne, dass mein Leid mich eben nicht quälen will, sondern mir hilft, einen Verlust zu verschmerzen und mit diesem Verlust wieder ganz – und das heißt heil – zu sein. Einen wie auch immer gearteten Verlust zu verschmerzen, bedeutet, mich wieder daran zu erinnern, dass ich in Wirklichkeit zeitlos ganz und heil bin; dass ich durch meinen Verlust nicht mein Ganzsein verliere bzw. verloren habe. Mein Leid und mein Schmerz wollen mich an mein unverlierbares Ganzsein erinnern, das ich gleichsam vergessen habe, weil ich mit meinem Herzen noch an dem Vergänglichem des Seienden hänge, wovon ich mich jetzt getrennt erlebe. Dieses Vergängliche können alle möglichen idealisierten Vorstellungen von mir, von geliebten Menschen, von Idolen oder von Sonstigem sein. Was aber kann ich jetzt für das notwendige Verschmerzen des Vergänglichen tun?
Entscheidend ist, dass ich die Verantwortung für mein Fühlen und Denken übernehme, statt mich zum Opfer meiner Lebensumstände zu erklären wie etwa: Weil es noch Himmel und Hölle, Länder, Grenzen, Religionen, Kriege, Umweltkatastrophen, böse Menschen oder auch Verluste von geliebten Menschen, von Tieren, von Fähigkeiten oder Attributen gibt, muss ich auf teils furchtbare Weise leiden. Mein Leid hängt nicht so sehr davon ab, ob es die gerade aufgezählten Faktoren tatsächlich oder vermeintlich gibt, sondern was ich mit meinem Bewusstsein aus meinen tatsächlichen oder vermeintlichen Lebensumständen mache; das heißt, wie ich gefühlsmäßig zu den Umständen in Beziehung trete. Es sind nämlich meine Vorstellungen von Himmel und Hölle und meine „Religionen“, sprich meine Glaubenssätze von bzw. in mir, mit denen ich mir meine Konflikte, meinen Himmel und meine Hölle dadurch mache, dass ich mir vorstelle, wie „es“ – z. B. „Dinge“ im weitesten Sinne – auf meine Weise ideal sein müsste. Ich stelle dann entweder erfreut – Himmel – fest, dass mir die Wirklichkeit zusagt; oder ich bin enttäuscht, niedergeschlagen, beschämt, verzweifelt oder gar entsetzt darüber, was ich in Wirklichkeit erlebe. Es sind die „Länder“ und „Grenzen“ in meinem Bewusstsein, mit denen ich Konflikte in mir erzeuge und aufrechterhalte. Damit soll keinesfalls verharmlost werden, was es in der Realität an Furchtbarem tatsächlich gibt.
Beispiele für „religion“, wovon Lennon singt, bzw. für Glaubenssätze, denen ich anhängen kann, sind folgende: Ich kann glauben, dass die Erfüllung von außen kommen muss und dass es von meinen äußeren Lebensumständen abhängt, ob ich glücklich bin oder leide. Oder ich glaube, dass ich kämpfen müsse, wenn ich wirklich etwas erreichen oder verändern wollte. Oder ich glaube, dass meine Bedürfnisse bzw. die der Meinen (Familie, Volk) immer Vorrang haben. Besonders dann, wenn mir solche Glaubensinhalte nicht explizit bewusst sind, bin ich in ihnen gefangen, da ich mich wie selbstverständlich in meinem Verhalten danach ausrichte.
Ebenso gibt es in meinem Bewusstsein Räume – „countries“, „Länder“ –, die ich entweder nicht verlassen oder die ich nicht betreten kann. Vielleicht traue ich mich ganz konkret nicht mehr aus der Sichtweite meines vertrauten Kirchturms oder aus Deutschland weg.
In jedem Fall gibt es aber Bewusstseinsräume, die ich nicht mehr betreten kann oder will: Da gibt es den Witwer, der nicht mehr die Orte besuchen will, an denen er mit seiner geliebten Frau glücklich war, weil das zu schmerzlich für ihn ist. Da sind die dunklen Erinnerungen an die leidenschaftliche Liebe zur Mutter, die heute peinliche Gefühle auslösen, weil sie gleichzeitig an Kleinheit und Abhängigkeit erinnern. Da gibt es die Liebesgefühle des Kindes dem Vater gegenüber, die es mit Ablehnungsgefühlen bis hin zum Hass unterdrückt, weil es diese Liebe zum Vater als Verrat an der Mutter empfindet, da letztere eifersüchtig bevorzugt sein will. Da sind die beglückenden und liebevollen Momente mit einem Partner, der mich später missachtet und gedemütigt hat.
Bei diesen Beispielen liegen Himmel und Hölle unmittelbar in meinem Bewusstseinsraum zusammen. Sie sind gleichsam miteinander verschränkt und bedingen sich gegenseitig. Ebenso ist es bei den Katastrophengeschehnissen, wo es zu unverhoffter Hilfe oder gar zur Rettung aus einer verzweifelten Lage wie beispielsweise beim letzten Ahrhochwasser gekommen ist. Nochmals andere Dimensionen von Himmel und Hölle sind Erfahrungen von Missbrauch, Grausamkeit und Vernachlässigung durch geliebte Menschen; besonders durch Eltern oder nahe Verwandte. Hier bleiben dann zum Selbstschutz die entsprechenden Bewusstseinsräume wegen der scheinbaren Unvereinbarkeit und Widersprüchlichkeit der Erinnerungsinhalte oft ein Leben lang verschlossene No-go-Areas.
Doch jeder Mensch hat solche Erfahrungen – solche „Länder“ –, in denen Himmel und Hölle untrennbar miteinander vermischt sind, in seinem Bewusstseinsraum. Gerade sie sind es aber, die den einzigartigen Reichtum und die Würde des Menschen ausmachen sowie seine Freiheit, diese Räume zu betreten oder auch nicht. Sie sind der letzte Beweis seiner Ganzheit, die nichts ausschließt. Die Frage ist nur, ob ich den Mut habe, diese „Gebietsgrenzen“ in mir zu überschreiten und dieses Himmel-Hölle-Gebiet in mir zu erkunden; und es „um Gottes willen“ nicht wegmachen zu wollen. Dies wegmachen zu wollen wäre eine erneute Missachtung eines würdevollen Teils von mir; so, als wollte man im kollektiven Bewusstsein den Holocaust vergessen und die Opfer nicht mehr würdigen.
Die Frage ist, ob ich meine von der kleinen Kultur meiner Familie und von der großen Kultur meines Volkes geprägten Glaubenssätze sowohl gelten lassen als auch aufheben kann. Um dies beispielhaft zu machen: Die Aufhebung eines richtigen Glaubenssatzes wie „Leid ist im menschlichen Leben unvermeidlich“ könnte dann lauten: „Das unvermeidliche menschliche Leid hat Würde und bewirkt gleichzeitig Erfüllung und Erlösung.“ Möglicherweise kann jeder Mensch dementsprechende Erfahrungen des Zusammenfalls von furchtbarem Leid und Seligkeit, von furchtbarem Schrecken und Jubel, von Hölle und Himmel im Laufe seines Lebens machen.
Ein Beispiel für das Betreten eines Himmel-Hölle-Gebiets könnte der Umgang einer Patientin mit ihrem durch den Vater erlittenen Vergewaltigungstrauma sein, das sie lange verdrängt hatte: Sie liebte ihren Vater sehr. Sie schaffte es schließlich, auch ihren furchtbaren Schmerz und ihre Not unter Gefühlen von Angst, von ohnmächtiger Wut sowohl auf den Vater als auch auf sich selbst, von Scham, von Schuld und von tiefer Trauer – als Ausdruck ihres Mitgefühls mit sich selbst aber auch Trauer über den Vater – zuzulassen. Unter ihrer Wut, die sie schließlich zulassen konnte, entwickelte sie auch grausame Rachefantasien. Diese verschafften ihr freudige Genugtuung, wenn auch mit anschließendem Schuldgefühl, was ja ebenso eine wertvolle Seite von ihr ist. Zu allen diesen Gefühlen und Seiten von sich konnte sie mitfühlend und liebevoll in Beziehung treten und sich für das, was sie ertragen, bewältigt und sich an Liebe bewahrt hat, wertschätzen.
Ähnliches hat eine Patientin durchlebt, die nach Jahren einer erfüllten Paarbeziehung missachtet und gedemütigt wurde. Indem sie sowohl ihren Himmel als auch ihre Hölle mitfühlend annehmen konnte, war sie wieder in der Lage die Liebe zu ihrem Expartner zu spüren, ohne dabei Schmerz zu empfinden oder ihn zurückhaben zu wollen. Dabei geht es nicht so sehr darum, damit den Tätern – hier Vater oder Expartner – etwas Gutes zu tun oder ihnen zu verzeihen; wobei sich das Zulassen von Liebe von selbst gleichzeitig immer als vergebend ereignet. Es geht noch nicht einmal hauptsächlich darum, mir damit meine Liebe zu ermöglichen; das natürlich auch. Es geht in erster Linie darum, der Liebe zuliebe meine Liebe wieder zu befreien. Ich bin immer noch sehr berührt über die erschütternde Mitteilung eines lieben Freundes, wie dankbar er nach dem Tod seiner geliebten Frau dafür war, in seinem furchtbaren Schmerz zu erfahren, wie sehr er liebt.
Die beschriebenen Beispiele implizieren die Notwendigkeit, dass ich mich sowohl im Interesse der befreienden Entwicklung meines weitgehend kulturell vorgeprägten Glaubens als auch im Sinne meiner Reise in dieses „Himmel-Hölle-Land mir jetzt zuwende, mich jetzt mit mir auseinandersetze und nicht nur davon träume, dass die Welt irgendwann ein besserer Ort wird.
Diese Welt, in der wir leben, ist zeitlos – und das heißt jetzt – auch mit den persönlichen und den kollektiven Höllen der bestmögliche Ort; selbst in Katastrophen, wenn ich ihn jetzt dazu mache. Und jeder vermag das zu erkennen, der sich allem was ist, mitfühlend und liebevoll zuwendet. Die barmherzigen „Menschengestalten“ im KZ, von denen Victor Frankl geschrieben hat, haben in dem Augenblick die Hölle des KZs zum Himmel gemacht; so wie die unverhofft im stinkenden Schlamm überfluteter Häuser des Ahrtals auftauchenden Helfer.
Jesus Christus hat uns genau das verkündet und vorgelebt, indem er aus Mitgefühl und Liebe alles menschliche Leid auf sich genommen, die Hölle betreten und die Erlösung für uns alle gefunden hat.
Meine tiefe Dankbarkeit gilt Ihm und in besonderer Weise den wunderbaren Frauen, die mich an ihren Himmel-Hölle-Erfahrungen im Zusammenhang mit Missbrauch, Vergewaltigung und Demütigung – teils durch den eigenen Vater – haben teilhaben lassen.
Sie hatten den Mut, das Himmel-Hölle-Land in sich zu betreten und sich damit mitzuteilen ...und dadurch in dem Augenblick erlöst zu sein.
Seit Menschengedenken gibt es im Leben jedes Menschen kleinere und große Katastrophen. Und das wird auch bis zum Ende der Menschheit so weitergehen, solange ein natürliches Menschenleben von der Geburt bis zum Tod währt. Solange nämlich bleiben das Werden und Vergehen mit den damit einhergehenden Trennungen und Verlusten ursächlich für Schmerz und Leid. Die Ursache des Leids sind nicht Gier, Hass, Anhaftung und Dummheit; auch nicht das Böse oder die Schuld. Die Ursache ist auch nicht das personifizierte bzw. „der“ Böse. Letztlich ist alles Leid ein Kind der Liebe; eine Liebe, die auf etwas Vergängliches ausgerichtet wird bzw. mit der ich etwas bestimmtes Vergängliches versehen habe. Die mit den lebendigen Veränderungsprozessen einhergehenden Verluste werden immer auch leidvoll bleiben, solange es das werdende und sterbende menschliche Leben sowie das Mitgefühl und die Liebe gibt. Und das Maß meines Verlustschmerzes und meines Leids ergibt sich aus dem Maß meiner Liebe zu dem Vergehenden. Die Liebe ist immer die Voraussetzung. Ohne meine Liebe zu dem Vergehenden bzw. zu dem, wie es zuvor war oder wie ich es mir in bewusster oder nur ahnungsvoller Erinnerung anders wünschte, als es jetzt ist, empfände ich weder Schmerz noch Leid.
Es gibt in diesem werdenden und sterbenden, natürlichen Leben des Menschen Liebe und Leid nur miteinander verwoben. Wollte ich leidlos werden, ginge das nur auf Kosten bzw. unter gleichzeitiger Aufgabe der Liebe. Zu diesem Schluss ungefähr ist Buddha vor ca. 2500 Jahren gekommen. Daher verkündete er die Erlösung, die Befreiung vom Leid im ewigen Rad des sich ständig wiederholenden Werdens und Sterbens des menschlichen Lebens durch das Nichts-mehr-Wollen und das Nichts-mehr-Fühlen im Nirwana.
Doch Siddhartas Motivation für sein entbehrungsreiches Bemühen um einen Weg aus dem menschlichen Leid war sein Mitgefühl mit dem menschlichen Leid, vor dem seine königlichen Eltern ihn gerade bewahren wollten.
Eine im Prinzip ähnliche Geschichte wiederholt sich – angeblich von Buddha vorhergesagt – etwa fünfhundert Jahre später in Palästina: Aus Mitgefühl mit dem Leid der Menschen und aus Liebe verlässt Gott in der Person seines Sohnes sein himmlisches Paradies. Er nimmt stattdessen, mit allem menschlichen Leid mitfühlend, alles Leid bis hin zum natürlichen Tod auf sich. Wenn aber die Menschwerdung, selbst die Menschwerdung Gottes aus Liebe, ein Leidensweg ist, und wenn Jesus sagt, dass er der Weg sei, dann bedeutet das, dass die Annahme des Leids, die Liebe und die Vollendung der Menschwerdung im Göttlichen äquivalent sind. Hierin bekäme das Leid seinen höchsten Sinn.
Das lässt sich konkret so verstehen, dass das Leid, das letztlich ein Kind der Liebe ist, bei Liebenden Mitgefühl, Herzensgüte, Fürsorge und Liebe weckt. Darin nun ließe sich der Zweck und der Sinn des Leids erkennen: In einem nicht endenden Entwicklungsprozess entsteht aus Liebe und Mitgefühl immer wieder Leid und Mitleiden und daraus wieder Mitgefühl, Fürsorge und Liebe usw. Es geht also im Interesse einer unaufhörlichen Ausweitung und Entwicklung von Mitgefühl, Mitmenschlichkeit und Liebe nicht um den Ausstieg bzw. nicht um die Beendigung des Leids. Es geht vielmehr um die bedingungslose grenzenlose Ausweitung der mitfühlenden Liebe und die damit einhergehende Erlösung gerade durch das Leid und seine immer mutigere Annahme. Jeder Mensch ist auf diese Weise mit seinem leidvollen Schicksal sowie seinem mitfühlenden und liebevollen Engagement Teil dieses Erlösungsprozesses.
Gier, Hass, Anhaftung, Dummheit, Boshaftigkeit und Schuld wirken dabei einerseits als Restriktionen in diesem Prozess. Andererseits lösen sie aber auch als Katalysatoren immer wieder den Entwicklungsprozess hin zu mehr Freiheit, Solidarität, Mitgefühl, Wohltätigkeit und Liebe aus; wie die Reaktionen in aller Welt auf Putins Gier, Hass, Dummheit, Anhaftung – an narzisstischen Größenideen – , Boshaftigkeit und Schuld beispielhaft zeigen. Alles Leid, das aus der Trennung und dem Verlust entsteht, gebiert gleichzeitig immer wieder neu heilsames Mitgefühl und erlösende Liebe – wenn ich es mitfühlend und liebevoll annehme, statt es bekämpfen zu wollen.
Bis jetzt hat die Menschheit ebenso mit allen Katastrophen überlebt, wie jeder Mensch eine persönliche Geschichte überlebter Katastrophen hat. Im Laufe seiner Evolution hat der Mensch bzw. die Menschheit gewaltige Fortschritte in allen Lebensbereichen gemacht. Das kollektive Bewusstsein expandiert zu immer mehr Freiheitsgraden hin. Der einzelne Mensch lernt zunehmend, sich aus sich selbst zu bestimmen. Damit einhergehend werden die alten religiösen und politischen Autoritäten entmachtet. Dass dies Autokraten wie Putin oder auch autokratischen religiösen Führern wie Kardinal Woelki missfällt, ist verständlich.
Doch dieser befreiende Entwicklungsprozess, in dem ich mich zunehmend aus meinem Mitgefühl und aus meiner freien Liebe heraus selbst bestimme, ist nicht aufzuhalten, da ursprünglich und letztlich alles Leben aus der einen bedingungslosen und damit freien Liebe hervorgeht.
Diesen befreienden Prozess kann ich gerade dann besonders fördern, wenn ich meine Wahrnehmung jedweden Leids, sei es mein unmittelbar eigenes Leid oder mein Mitfühlen mit dem Leid der anderen, mit dem explizit oder innerlich ausgesprochenen Satz verbinde: Auch mit diesem Leid habe ich Mitgefühl mit mir und liebe mich. Damit knüpfe ich wieder die Verbindung sowohl zu meiner Quelle in der Liebe als auch zu meinem Ziel in der Liebe. Diese Möglichkeit zum Umgang mit dem Leid – das damit keineswegs verharmlost, sondern ausdrücklich gewürdigt werden soll – in großen und in kleinen persönlichen Katastrophen habe ich bis zu meinem letzten Atemzug. Solange wir Menschen dieses werdende und sterbende Leben mit all seinem Leid leben, haben wir die Freiheit, uns gerade durch dieses mitfühlend geteilte Leid verbunden und aufgehoben zu fühlen.
Axelrod, R.: Die Evolution der Kooperation. München, 1995.
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Camus, A.: Der Mythos von Sisyphos, Reinbek, 2000
Eble, R. u. G.: Auch damit habe ich Mitgefühl mit mir und liebe mich. Norderstedt, 2021
Frankl, V.: … trotzdem Ja zum Leben sagen. München, 1982.
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Luhmann, N.: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt, 1987
McWhorter, J.: Die Erwählten. Hamburg, 2022
Dr. Günter Eble
Facharzt für Innere Medizin
Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie
Palliativmedizin
Burghof 23
53501 Grafschaft
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